Kolumne – Gedankenkiosk

No Vizefreitag, aber einer früher. Passt heute, also wird das so gemacht. Tage wie zweiter Gang und Gas für den fünften, wie Karibik mit warmem Zimtkakao.

Frage mich immer wieder, wieso ich auf Facebook nur noch bekloppte „Vorschläge für dich“ bekomme – nur noch GlamspamOmasApothekenRezepte-Seiten, die irgendeinen Müll posten – beruht das auf meinem Leseverhalten? Also auf nix? Ich lese ja nix mehr, ich klicke nur noch weg. Und dann scrolle ich mich weiter durch die krude Mischung aus Pilszsammelwanderungen und Werbung für ein Michael-Jackson-Musical und kann mich gar nicht entscheiden, worauf ich mehr Bock habe.

Manchmal ist mir die virtuelle Welt fremder als der neue Postbote, der gefühlt nie bei mir hält, sich aber bestimmt genauso oft wie ich immer noch fragt, warum zum Kuckuck die Hausnummer 4 zweimal existiert. Smileys und Bok haben das inzwischen gebucht – das Essen bleibt also warm und an meine Briefe gelange ich früher oder später immer. 

Zurück zum WWW. Dieses Miteinander oder vielmehr Gegeneinander, was ich häufig in den Kommentaren wahrnehme – Menschen, die sich gegenseitig beleidigen, die klugscheißern, dass man ein Schleudertrauma vom Kopfschütteln bekommen könnte, die – anstatt einfach weiterzuscrollen – die Anonymität des Internets nutzen, um ihr hässliches Inneres zu zeigen, alles ungefiltert rauskloppen, was ihnen gerade durch die Nervenbahnen zuckt – war das früher schon so? 

Waren wir einfach weniger im Netz und kam es mir deshalb noch nicht so inflationär vor mit dieser Kommentarinkontinenz? 

Gerade habe ich ein bisschen in meinem alten Blog gestöbert – November 2005 ging der erste Text von mir online. Ein Blog – ey, das war sowas von NEU, das war sowas von OhYeah,-wir-sind-die-Ersten, also man traf sich nach einer Weile des Schreibens in einer gemütlichen Runde im Internet, kaum zu glauben. Schön war das – immer dieselben Nasen, irgendwie kannte man sich gar nicht und dennoch… Freundliche, frotzelige, intelligente Kommentare mal hier oder da, ich kann mich an keine einzige Löschung erinnern. Ich habe ein bisschen Sehnsucht nach diesem Ort. 

Gestern erzählte mir eine Klientin, die Mitte Zwanzig ist, dass sie Sorge habe, dass mit Anfang 40 der Spaß vorbei sei, da ihr jemand in diesem Alter auf einer Feier wehmütig aus seinen Zwanzigern berichtete. Ob das wohl so sei, wenn man älter wird, ob man dann der Jugend hinterhertrauere? 

Kann sein, dass es manchen Menschen so geht. Kann aber auch sein, dass es eher ein Gefühl ist, welches sie vermissen. Ein Gefühl für sich und die Welt um sie herum, dass ihnen in ihrem gegenwärtigen Leben etwas fehlt, was damals da war – Flexibilität, Freiheit, Leidenschaft, Verbundenheit … oder irgendetwas anderes?
Es gilt, genau hinzuschauen, ob wir wirklich eine Alterszahl vermissen oder ob uns ein Zustand abhandengekommen ist, der sich damals gut angefühlt hat.

Ich für meinen Teil erhöhe gerade wieder aktiv die Anzahl meiner Live-Begegnungen mit echt guten Menschen. Positive Energie, die sich gegenseitig beflügelt, Einblicke in Gedanken, Austausch und Kontakt. 

Und vielleicht auch einfach wieder mehr Blog anstatt Insta und Facebook.

Wenn Du Lust hast, ein bisschen was aus „2005 plus“ zu lesen, dann klick doch mal hier:

www.dieschroederei.com

Wonach hast du manchmal Sehnsucht?

Vom Anpacken und Loslassen

Springen, anfangen, durchbeissen, jubeln, Luft holen, Ärmel hochkrempeln, reinschauen, weit blicken, entscheiden – und … loslassen. Die Selbstständigkeit ist ein Konzept, von dem ich vier Jahrzehnte niemals gedacht hätte, dass wir zusammengehören. Das war nicht mein Selbstbild, nicht etwas, von dem ich dachte: „Da bin ich mit allem, wie ich ticke, goldrichtig“. 

Als ich mit fast 43 Jahren vor meinem Textchef im Verlag stand und ihm mitteilte, dass ich kündigen werde, um mich selbstständig zu machen, antwortet er: „Das überrascht mich nicht, Sie sind ja eh ein Freigeist.“

Das wiederum überraschte mich. Kreativ – ja. Impulsiv – ja. Freiheitsdrang – ja, aber diese Sicherheit … die war doch immer wichtiger? Nun ja, inzwischen arbeite ich mit Klient*innen täglich an diesem Thema in meiner Praxis: Manchmal muss man ein paar Jahrzehnte leben und viel Persönlichkeitsentwicklung betreiben, bevor man Prägungen abschüttelt und zu seinem eigenen Kern durchdringt. Und auch danach lebt.

Meine psychotherapeutische Praxis habe ich mir (anfangs neben meiner Arbeit als Redakteurin für Psychologie und Gesundheit) Schritt für Schritt aufgebaut, mit allem, was dazugehört: nebenberufliche Ausbildung, eigene Psychotherapie, Businessplan, Gründungszuschuss, Weiterbildungen in Gesprächstherapie und zum Burnout-Coach, Ausbildung zum NLP-Practitioner und NLP-Master, minikleiner Raum, kleiner Raum, größerer Raum. Zwei Termine pro Woche, zwanzig Termine pro Woche, Erfolg, Stagnation, Verzweiflung, Freude, unbändiger Wille … spät abends noch an den Rechner, am Wochenende die Website, Blogartikel, Buchhaltung. Nein, ich trenne häufig Freizeit und Arbeit nicht, mein Laptop ist im Urlaub dabei – ich würde eingehen, wenn ich Ideen und Texte nicht unmittelbar notieren könnte und daran zwei oder drei Wochen nicht weiterdenken dürfte. Ich liebe meine Arbeit. Und ich liebe meine Familie, meine Freunde, meine anderen Interessen.

Nach ein paar Jahren bildete ich mich weiter zur Schreibtherapeutin und Seminarleiterin für kreatives Schreiben und Poesietherapie – da war die Idee, das Stärkende mit dem Kreativen zu verbinden – und ich sage Euch – Schreiben kann das ganz wunderbar. Der Soulwriters-Club war in meinem Kopf schon lange auf der Welt, das Logo längst entworfen und die Konzepte geschrieben, als ich im Sommer 2022 endlich den ersten Workshop anbot. 

Ich habe eine große Praxis angemietet mit wirklich wunderbaren Räumlichkeiten, ich habe Werbung geschaltet, Reels gedreht, Flyer gedruckt, Aushänge im Stadtteil angebracht, Instagram langsam ausgebaut – die Antwort waren volle Schreibworkshops und tolle Rückmeldungen, wunderbare Begegnungen und großartige Einblicke in die Herzen und Köpfe vieler Teilnehmer*innen. 

Ich könnte ewig so weitermachen. 

Und musste in den letzten Monaten feststellen: Kann ich nicht. 

Möchte ich nicht. 

Als Coach für Burnout-Prävention und Stressmanagement stelle ich fest: Es ist zuviel von dem einen und zuwenig von dem anderen. 

Nicht nur von XY Stunden die Woche möchte ich hier reden, sondern von den gefühlt fünf Hochzeiten, auf denen ich auch gedanklich gleichzeitig tanze – mein Hauptjob, meine psychologische Praxis, mein Roman, mein Sachbuch, an denen ich schreibe, ich begleite eine Sachbuchentstehung, ich mache Einzelschreibcoachings und konzipiere und gebe Schreibworkshops. 

Und ich habe eine Familie, Freunde, einen Hund und zwei Katzen, die ich wirklich gern um mich habe. Ja, die Kinder sind inzwischen Teenager, aber ich möchte mich trotzdem mit ihnen und ihrer Welt beschäftigen und für sie da sein. Am liebsten würde ich in meiner Freizeit noch mehr Klavier spielen, singen, mehr lesen und endlich wieder in eine Malschule gehen – von Sport ganz zu schweigen und gern würde ich auch mal ne Stunde gar nichts machen.
Und wenn da so viele „Ich würde so gern …“ sind, dann muss man sich eigenverantwortlich fragen: „Und warum machst Du es nicht?“ 

Die typische Antwort wäre: „Das geht nicht, dafür habe ich keine Zeit“. 

Und nun der nächste Gedanke: Es ist meine Entscheidung, keine Zeit dafür zu haben. 

ICH gestalte mein Leben – und niemand sonst. Es geht also um Prioritäten, um eine Selbstanalyse (#schönmichzusehen), um Entscheidungen – und die habe ich in der Ruhe der dänischen Landschaft im August getroffen:

Die Schreibworkshops machen mir soviel Spaß, bedürfen aber viel Zeit und Gedanken, was Akquise und Organisation in meinen Räumlichkeiten betrifft.

Also habe ich schweren Herzens entschieden, dass die im September startenden Schreibworkshops die letzten in dieser Art sein werden. 
Ab 2024 biete ich nur noch Schreibworkshops auf Anfrage von geschlossenen Gruppen von privat oder von Firmen an – oder Seminarhäusern, die einen Anbieter für ihr Programm suchen. 

Aus der Seite www.soulwriters-club.de wird in nächster Zeit www.juliaschroedergoeritz.de – um dort alle Aktivitäten rund um meine schreibenden Tätigkeiten zu versammeln.

Ich finde es wichtig, auch als Selbstständige in dem ganzen Insta-Wow-So-Wirst-Du-Trillionär-Ding zu sagen: Ich möchte wieder etwas downsizen, Tempo rausnehmen, gedanklichen Umfang händelbarer machen. Übrigens auch räumlichen.

Meine Praxistätigkeit steht für mich auf der Prioritätenliste ganz vorne und ich merke, dass ich mich darauf wieder mehr konzentrieren möchte. Ich lebe das Privileg eines für mich sehr sinnhaften Arbeitens und möchte die Freude daran behalten – ohne von einem Tun ins nächste zu hetzen. Und um einen meiner Lieblingssätze aus dem Stressmanagement selbst zu leben:
„Ich muss nicht alles machen, was ich kann.“ 

Was das für diesen Kanal hier bedeutet? Los, bucht die letzten Schreibworkshops! 🙂 Haha! Das wäre natürlich super – aber abgesehen davon wird es hier weiterhin Texte und alles rund ums Schreiben geben, nur die Workshop-Ankündigungen, die werden ab Ende Oktober nicht mehr im Content vorkommen.
Also – bleibt doch trotzdem noch ein bisschen hier, ich würde mich freuen.

Foto: Maya Meiners (https://maya-meiners.de)

Über mich – Auflösung 3

Über mich

Mein Herz klopft so laut, die Schlangen müssten wach davon werden. Wir stehen in einem Kellerraum, Boden und Wände sind gekachelt, einige dicke Äste sind verteilt, meine Augen suchen … und finden. „Eine schläft, und da, sie ist wach!“ Rüdiger Nehberg zeigt auf eine riesige Schlange links auf dem Boden. „Die sind eigentlich harmlos, Du darfst nur nicht zulassen, dass sie Dich umwickeln. Wenn sie Dich hat, dann zieht sie sich jedes Mal, wenn Du ausatmest, enger, bis Du keine Luft mehr bekommst. Der Trick ist, sie dann vom Schwanz her abzuwickeln, wir haben das ausprobiert.“ Mit offenen Mündern schauen wir ihn an, dann die Schlange … 

„Möchtest Du?“, er schaut mich aufmunternd an. 

„Was?“, frage ich. 

„Sie einmal um die Schultern nehmen?“

Ich schlucke. Ich mag Schlangen. Aber ich hatte noch nie so eine große direkt vor mir. Dann spüre ich, wie ich nicke, meine Neugier ist größer als alles andere. Noch ein paar Instruktionen bekomme ich, dann fühle ich das Gewicht des Tieres auf meinen Schultern, meinem Nacken, meinen Armen, sie bewegt sich, ich halte sie und taste vorsichtig mit meinen Fingern über ihre Haut. Rauh, trocken, schön. Einen Augenblick noch. Dann wird sie schwer und Rüdiger Nehberg nimmt sie mir wieder von den Schultern. „Gut gemacht“, lächelt er. Mit unserem Interview im Gepäck bedanken wir uns bei ihm, wir haben eine Menge Material für ein richtig gutes Referat – es wird Zeit, den anderen in unserer 8. Klasse von der Bedrohung der Yanomami-Indianer zu erzählen.

Anmerkung: Rüdiger Nehberg starb im April 2020. Er war ein Menschenrechtler, ein Aktivist, der sein Leben dem Einsatz gegen Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeiten verschrieb. Bekannt wurde er für seine spektakulären Aktionen, 1982 machte er sich das erste Mal auf den Weg zu den Yanomami, dem größten, recht isoliert lebenden indigenen Volk Südamerikas, welches durch Goldsucher in ihrer Existenz bedroht wird. In den Achtzigern drangen über 40 000 Goldsucher in ihren Lebensraum ein, töteten, schleppten Krankheiten ein, zerstörten Dörfer. In nur sieben Jahren starben etwas 20 Prozent der Yanonami. 

Im Jahr 2000 engagierte Rüdiger Nehberg sich für ein weiteres Thema: Genitalverstümmelung bei Frauen. Er und seine Ehefrau gründeten Target e.V. Täglich werden 8000 Mädchen und Frauen verstümmelt – Nehbergs Verein kämpft nach wie vor dagegen: https://www.target-nehberg.de/de

Wir hatten damals den Auftrag, ein Schulreferat zu verfassen und stießen auf Rüdiger Nehberg und seinen Kampf für die Rechte der Yanomami-Indianer. Wir durften zu ihm nach Hause kommen, um ihn zu interviewen. Ich erlebte ihn als unglaublich netten, humorvollen, gastfreundlichen Menschen, der uns Schülerinnen diese tolle Möglichkeit gab und uns seine Zeit und einen Einblick in seine Arbeit schenkte.
Ein Jahrzehnt nach diesem Interview sah ich Rüdiger Nehberg noch einmal bei einem Vortrag an der Universität Hamburg. Noch nie habe ich einen Menschen erlebt, der so sehr für das brennt, was er tut, der mit so einer Überzeugung, Leidenschaft und Engagement erzählt und sich einsetzt. Medien berichteten häufig von ihm als „Der muss verrückt sein“, weil er ungewöhnliche Dinge tat (siehe Interview unten). Meiner persönlichen Meinung nach wäre die Welt ein besserer Ort, wenn es mehr Menschen wie ihn gäbe.

Ein interessantes Interview gibt es hier zu lesen:

https://www.spiegel.de/geschichte/ruediger-nehberg-wird-80-ich-habe-es-immer-mit-dem-teufel-gehalten-a-1031228.html