Kolumne – Gedankenkiosk

No Vizefreitag, aber einer früher. Passt heute, also wird das so gemacht. Tage wie zweiter Gang und Gas für den fünften, wie Karibik mit warmem Zimtkakao.

Frage mich immer wieder, wieso ich auf Facebook nur noch bekloppte „Vorschläge für dich“ bekomme – nur noch GlamspamOmasApothekenRezepte-Seiten, die irgendeinen Müll posten – beruht das auf meinem Leseverhalten? Also auf nix? Ich lese ja nix mehr, ich klicke nur noch weg. Und dann scrolle ich mich weiter durch die krude Mischung aus Pilszsammelwanderungen und Werbung für ein Michael-Jackson-Musical und kann mich gar nicht entscheiden, worauf ich mehr Bock habe.

Manchmal ist mir die virtuelle Welt fremder als der neue Postbote, der gefühlt nie bei mir hält, sich aber bestimmt genauso oft wie ich immer noch fragt, warum zum Kuckuck die Hausnummer 4 zweimal existiert. Smileys und Bok haben das inzwischen gebucht – das Essen bleibt also warm und an meine Briefe gelange ich früher oder später immer. 

Zurück zum WWW. Dieses Miteinander oder vielmehr Gegeneinander, was ich häufig in den Kommentaren wahrnehme – Menschen, die sich gegenseitig beleidigen, die klugscheißern, dass man ein Schleudertrauma vom Kopfschütteln bekommen könnte, die – anstatt einfach weiterzuscrollen – die Anonymität des Internets nutzen, um ihr hässliches Inneres zu zeigen, alles ungefiltert rauskloppen, was ihnen gerade durch die Nervenbahnen zuckt – war das früher schon so? 

Waren wir einfach weniger im Netz und kam es mir deshalb noch nicht so inflationär vor mit dieser Kommentarinkontinenz? 

Gerade habe ich ein bisschen in meinem alten Blog gestöbert – November 2005 ging der erste Text von mir online. Ein Blog – ey, das war sowas von NEU, das war sowas von OhYeah,-wir-sind-die-Ersten, also man traf sich nach einer Weile des Schreibens in einer gemütlichen Runde im Internet, kaum zu glauben. Schön war das – immer dieselben Nasen, irgendwie kannte man sich gar nicht und dennoch… Freundliche, frotzelige, intelligente Kommentare mal hier oder da, ich kann mich an keine einzige Löschung erinnern. Ich habe ein bisschen Sehnsucht nach diesem Ort. 

Gestern erzählte mir eine Klientin, die Mitte Zwanzig ist, dass sie Sorge habe, dass mit Anfang 40 der Spaß vorbei sei, da ihr jemand in diesem Alter auf einer Feier wehmütig aus seinen Zwanzigern berichtete. Ob das wohl so sei, wenn man älter wird, ob man dann der Jugend hinterhertrauere? 

Kann sein, dass es manchen Menschen so geht. Kann aber auch sein, dass es eher ein Gefühl ist, welches sie vermissen. Ein Gefühl für sich und die Welt um sie herum, dass ihnen in ihrem gegenwärtigen Leben etwas fehlt, was damals da war – Flexibilität, Freiheit, Leidenschaft, Verbundenheit … oder irgendetwas anderes?
Es gilt, genau hinzuschauen, ob wir wirklich eine Alterszahl vermissen oder ob uns ein Zustand abhandengekommen ist, der sich damals gut angefühlt hat.

Ich für meinen Teil erhöhe gerade wieder aktiv die Anzahl meiner Live-Begegnungen mit echt guten Menschen. Positive Energie, die sich gegenseitig beflügelt, Einblicke in Gedanken, Austausch und Kontakt. 

Und vielleicht auch einfach wieder mehr Blog anstatt Insta und Facebook.

Wenn Du Lust hast, ein bisschen was aus „2005 plus“ zu lesen, dann klick doch mal hier:

www.dieschroederei.com

Wonach hast du manchmal Sehnsucht?

Über mich – Auflösung 1

Biografisches Schreibratespiel

Hier die erste Auflösung meines kreativen Rateschreibspiels „Über mich“ vom 7. August 2023, die Nummer 5 ist wahr. Und das Ganze begab sich folgendermaßen:

Wieder ein Donnerstag, wieder auf dem Weg in den Kaiserkeller. Ich wohne in einem Stadtteil Hamburgs, der so charmant ist, wie diese dünnen Papierservietten in Eiscafés, die alles verteilen aber nichts aufsaugen. Mein Fiat Panda klappert unterhaltsam, das Autoradio funktioniert erst mit sanftem Fußtritt, es ist 21:30 Uhr, der Wecker klingelt auch die nächsten zwei Wochen um 6, doch ich bin jung und Nächte durchzumachen ist reine Trainingssache. 

Tagsüber bin ich in der Buchhaltungsabteilung der Holsten-Brauerei, die Stunden dazwischen verbringe ich auf der Tanzfläche unter der Erde oder bei Musikproben im Luftschutzbunker. Kurt Cobain ist seit über einem Jahr tot, doch es ist noch immer die Zeit des Grunges, des Alternativrocks, wir haben wilde, gefärbte Haare, karierte Hemden und dicke Boots an und ich bin auf der Suche nach coolen weiblichen Vorbildern und einem norddeutschen Eddie Vedder und versinke in „Reality Bites“.

Die besten Stunden, das sind die, wenn die schwere Tür des Bunkers nachgibt und wir die kühlen Räume betreten, in denen es im Erdgeschoss nach Urin und Muff riecht. Vier Stockwerke hoch, aufschließen – und drei Stunden das Beste der Welt machen: Musik mit Freunden. Schmerzende Arme an Wochenenden – wir schleppen Boxen und Instrumente, laden sie ins Auto, spielen in der Prinzenbar, auf dem Rathausmarkt, im Knust, Marxx … 

Das und der Kaiserkeller – zwei Orte, die meiner Melancholie und dieser immer wieder drängenden Frage „Wo gehöre ich hin?“ ein paar tröstende Antworten anbieten.

Dreißig Minuten später – ankommen auf dem Kiez, das Unmögliche schaffen: einen Parkplatz finden. Treppen runter in den Keller, Jacke beim DJ deponieren, checken, wer da ist, Selter holen, dann rauf auf die Tanzfläche und vier Stunden nur noch zum Trinken und kurz „Hallo“ sagen pausieren: Stone Temple Pilots, Garbage, Smashing Pumpkins, Pearl Jam, Soundgarden, ich bewege mich, ich schwitze, ich fühle jeden Ton, es ist, als polstere die Musik mich von innen gegen alles, was von außen kommen mag. 
Mit Tom, dem DJ, kurz schnacken, auch mal über Musik, auch dass ich Musik mache – ob wir ne CD haben? „Bring doch mal mit“! 

Ein paar Wochen später – wieder ein Donnerstag, alles wie immer, doch der DJ winkt mich ran: „Gefällt mir, spiele ich nachher mal was von, Nummer Sechs?“
Und dann die ersten Töne, das sind wir. „Lie to me“ – ein Song über Wunden und Wut, mein Herz schlägt schneller, es gehen mehr Leute auf die Tanzfläche, ich nicht. Hinter einem Pfeiler stehe ich – meine Stimme auf der Tanzfläche, ich scanne jedes Detail. Jeder Moment ist einmalig in seiner Zusammensetzung aus Tatsachen, Gefühlen, Projektion und Besetzung. Nichts wird sich je wiederholen. Ich schließe meine Augen und nehme ihn mir, diesen Moment, ich betaste ihn, ich präge ihn mir ein – und verwahre ihn an einem sicheren Ort.

Zwei Jahre später renne ich in meinen Doc Martens weg – vom Dasein als kaufmännische Auszubildende, hin zur Uni Hamburg. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, das Ding ist abgeschlossen, nicht glänzend, aber ich habe jetzt einen Beruf. 
Ich habe jetzt also einen Beruf, den ich nicht mag und der mir das Gefühl gibt, zu altern bevor ich alt werde und beschließe: das kann es nicht gewesen sein. Also lasse ich den Wunsch meines Vaters platzen, lehne eine begehrte Übernahme dankend ab und studiere Journalistik, Germanistik und systemische Musikwissenschaften. 

Für Journalistik brauche ich ein Praktikum. Radio ist genau mein Ding, Delta Radio zu dem Zeitpunkt vor allem, ich gehe mit Kollegen auf Konzerte, lerne Interviews zu führen, Beiträge zu verfassen, zu schneiden, zu moderieren, treffe bei einer Pressekonferenz George Clooney und Greg Graffin, der Sänger von Bad Religion, hält mir eines Tages lächelnd die Tür auf, als ich Feierabend mache, wieder so ein Moment. 

Das Schönste aber sind die Feierabende mit Kollegen, exklusive Konzerte, Nächte an Bartresen, gute Gespräche, diese ganzen Monate – eine Zeit, in der ich mir, anderen und dem Leben sehr nahe komme, Leichtigkeit und Freude in so Vielem finde. 

Und dann sitze ich im Auto, donnere mein Radio in die Halterung, schlage mit der Handfläche hinterher, bis der Kontakt sitzt. Mein Kollege moderiert eine Sendung für Newcomerbands ohne Plattenvertrag – „Und als nächstes hört Ihr eine Hamburger Rock-Band, Novocane …“ Ich fahre nicht los, ich drehe lauter und lehne mich an die Kopfstütze. 

Ich wünsche mir in dem Moment, das Leben könnte so weitergehen – indem ich Orte finde, an denen ich mich richtig fühle, Menschen, mit denen ich ich sein kann, mit Augenblicken, die für die Ewigkeit sind. Dann drehe ich den Zündschlüssel. Probe fängt in einer Stunde an.

Kolumne – Gedankenkiosk

Bild mit Frauenkopf, auf dem viele Bücher liegen, eine Uhr im Hintergrund. Viele Gedanken.

Vizefreitag und zwei Wochen wie Watte mit Wumms, wie Eiswürfel und Chilischoten lutschen im Wechsel. Mein lieber Scholli, was war das denn?

Eben noch lauschig unter Lichterketten und Lampions, dann auf dem Affenfelsen sitzend bei Freunden, mit kühlen Getränken und Grillpizza essend, im nächsten Moment mit einem Bein wie aus Jurassic Park in die Notfallpraxis stampfend und einem Horrorfilm im Kopf, der eher was von „Dr. Frank – nicht drehbare Szenen“ hat. 
Nicht die 16 Stiche hübsch verteilt seien das Problem, erklärt mir die sehr schnell sprechende und agierende Ärztin. Nee, auch keine allergische Reaktion sei das und schaut auf das hochflammende Rot an meinem Unterschenkel. Bakterien haben es sich in meinem Blutkreislauf gemütlich gemacht. 
Die gute Nachricht: Erstmal nur im Bein. Die schlechte: Da bleiben die nicht freiwillig. Also rein mit der Chemie, Füße hoch, Ruhe. Bitte was? „Aber es wartet eine wunderschöne Kreissäge auf mich!“, möchte ich ihr entgegenrufen. Und zwei Konzerte und eine tolle Party – geht das zusammen? Geht es nicht, erklärt sie mir ungerührt. 
Statt Oberfräse und Meißel, Tanz und Bier gibt’s Fernbedienung und Antibiotika, Galgenhumor und Schlaf. Nach zwei Tagen humple ich trotzdem los, ich habe einen Auftrag. Die Black Keys mussten ohne mich auftreten, aber diese Kommode, die will ich bauen, verdammt nochmal! 
Entscheidungen zu treffen kann so anstrengend sein, wie knietief durch Sand zu schlurfen, aber auf die Partybarkasse der @businessmomsnet schaffe ich es einfach nicht. 
Diese Vernunft, die mich in den Partynächten mit Mitte Zwanzig noch selbst beschwipst anzwinkerte und mir ins Ohr hauchte: „Ach komm, scheiß drauf! Bist nur einmal jung!“, sie ist auch älter geworden und hat ihren Job endlich übernommen: „Ey, das geht so nicht mehr. Du musst Dich erholen. Dein Bein sieht immer noch übel aus.“ Jaja. Und dann sitze ich Freitag im MOJA mit einer duftenden Kommode, die hellen Holzstaub hinterlässt – und denke mir: Krass, diese Pläne – können die sich mit dem Leben mal besser absprechen?

Kolumne – Gedankenkiosk

Bild mit Frauenkopf, auf dem viele Bücher liegen, eine Uhr im Hintergrund. Viele Gedanken.

Vizefreitag und eine Woche wie drei Tüten Brausepulver auf einmal im Mund. 

Überschäumend vor Glück ist eine Redewendung, mit der ich was anfangen kann. Ein Moment, in dem alles stimmt, alles so gut ist, dass ich am liebsten den Kopf in den Nacken werfen und einfach nur „JAAAA!!“ brüllen möchte. So so gut, dass es fast weh tut. Menschen, die springen, Menschen, die singen, jeder für sich und doch alle im Einklang. Das kann Musik, und ich bin mir sicher: mein Herz ist aus Rock. 
Vor 32 Jahren hat sich etwas in meiner DNA angesiedelt, was mit einem Ton reaktiviert wird, was mit einem Akkord soviele Emotionen auslöst wie bei manchen Menschen die dritte Runde Titanic mit Céline-Geheule.

Ein bisschen klebrig, sehr muffig und dunkel kann manchmal der schönste Ort sein, wenn „Kiffen verboten“ ist, aber viele betrunken, wenn auch ein schlechter DJ der guten Musik nichts anhaben kann. Dann sind wir in Sicherheit, in unserem Element, wo wir lange jung waren und jetzt langsam alt werden. Graue Haare lösen graue Haut ab, wir sehen gesünder aus, aber nicht mehr elastisch. 
Macht nichts, Hauptsache, der Blick auf die Welt bleibt weit, und ein Verständnis davon, was wichtig ist für ein gutes Miteinander. 
Was braucht es zum Leben? Manchmal orangefarbenes Licht unter Oldschool-Markisen, Katzenfell unter den Fingern und das gute Gefühl, dass die falschen Entscheidungen in der Vergangenheit liegen. 

Wovon wir zehren? Von der Weite des Meeres, guter Luft in den Lungen und Frieden mit dem Hier und Jetzt. Ein Geschenk. Ein Ausschnitt. Wenigstens ein paar Minuten am Tag. 
Viva la Zukunft. 

Zitat des Tages: „Ohne Musik wär’ alles nichts“ – Wolfgang Amadeus Mozart 

#soulwritersclub#soulwriters_club#schreibenschreibenschreiben#kolumne#texten#alltagsgedanken#gedankenkiosk#juliaschrödergöritz#musik#konzerte#mozart#zitate#rocknroll

Biografisches Schreiben – „Nur mal probieren!“

Regen prasselt gegen die Fensterscheibe hinter mir, ich sitze am weißen Küchentisch, meine Mutter steht am Herd. In der Pfanne wendet sie dicke braune Würste, so groß wie Auberginen. Um die Herdplatte herum ist alles gesprenkelt von kleinen Fettpunkten, der Dunstabzug röhrt auf Stufe Drei durch die Mittagsruhe. Die Ärmel meines Sweatshirts schiebe ich hoch, meinen Rock habe ich ausgezogen, ich sitze nur in meiner roten Strumpfhose auf dem kühlen Küchenstuhl, vor mir kleine Dampfwolken, die aus dem gelben Kartoffelpüree in die Luft steigen. „Nur mal probieren“ ist die Devise. Ich erinnere, wie das schmeckt. Aber nur wenn ich „wenigstens mal probiere“, gibt es die anderen Würstchen. Welcher Erwachsene hat sich den Quatsch bloß ausgedacht? An seine Kindheit kann sich der sicher nicht erinnern.

Meine Mutter kommt mit der ganzen Pfanne an den Tisch, es blubbert und brutzelt, plötzlich ein stechender Schmerz, ich schaue auf meinen Oberschenkel und ein dunkelroter Fleck breitet sich auf meinem Bein aus, Fett auf meiner Strumpfhose.

Da liegt sie vor mir. Schwarz, prall, der Geruch etwas säuerlich, würzig, ich schaue meine Mutter fragend an, sie sagt: „Na los, einmal aufschneiden!“ 

Ich seufze, setze das Messer an, die weiche Haut gibt etwas nach, die Spannung kann ich bis in den Messergriff spüren. Etwas fester drücke ich, dann schließlich ein leises Ploppen und durch ein Loch in der Haut quillt die schwarze, krümelige Masse heraus. Ab und zu dazwischen ein größerer Brocken, der schrumpelig aussieht – Rosinen. Tief atme ich ein, schneide das Loch etwas größer und lasse die Welle herausbröseln auf meinen Teller. Soviel wie nötig schiebe ich auf meine Gabel – es gibt laut der Erwachsenen ja eine bestimmte Menge, ab der es erst als wirkliches Probieren gilt. Also diese Menge liegt nun da, bereit zum Testen, ich rieche das Säuerliche und Würzige noch deutlicher, schließe die Augen und lenke die Gabel in den Mund. Von innen versuche ich meine Nase zu verschließen, das Riechen einzustellen, dann wird auch das Schmecken weniger. Doch die schwarze Masse ist penetrant, die Krümel schieben sich in jede Zahnlücke, kleben an meinen Wangeninnenseiten, ich öffne meine Augen wieder und spüre, wie sie anfangen zu tränen. Ich möchte schlucken, mein Hals will das Gegenteil, ich versuche meinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen, um zu signalisieren „Ja, oh ja – das habe ich jetzt aber probiert, ich schmecke ganz genau…“, dann greife ich zum Glas und spüle die krümelige Pampe mit Wasser herunter. Eine Rosine rutscht an meinen Backenzähnen vorbei, ich fühle, wie sich die Haare auf meinen Unterarmen aufstellen. Nach dem zweiten Schluck Wasser schüttele ich mich und schiebe schnell Kartoffelbrei hinterher. Geschafft. Wieder ein Jahr Ruhe. Ich hasse Grützwurst bis heute.

Schreibaufgabe für Dich:

Denke an ein Essen aus Deiner Kindheit, welches Du besonders ekelhaft oder besonders köstlich fandest.
Beschreibe die Szenerie und den Moment des Essen, Deine Gefühle und Gedanken dabei mit allen Sinnen!

#soulwriters_club #soulwritersclub #kreativesschreiben #biografischesschreiben #schreibworkshop #schreibenschreibenschreiben #stärkendesschreiben #persönlichkeitsentwicklung #schreibwerkstatt #hamburg #onlinekurse #juliaschrödergöritz

Kolumne – Gedankenkiosk

Bild mit Frauenkopf, auf dem viele Bücher liegen, eine Uhr im Hintergrund. Viele Gedanken.

Vizefreitag und Tage wie eine Ikea-Montageanleitung. Der Inhalt der Packung ist deutlich, die Struktur völlig klar. Doch dreht man ein einziges Teil in die falsche Richtung, geht es nicht weiter oder muss demontiert werden – und man beginnt von vorn. 

In der Praxis einige Menschen, die einen Plan für ihr Leben in sich trugen – und aufgrund eines Teils alles auseinandernehmen und von vorn beginnen müssen. Viele Tränen diese Woche, und dann dieser kleine Funke von „Ich weiß, wie das geht – aufstehen“, und die Schwere wird löcherig und lässt etwas durchscheinen, in kleinen Schritten wird es heller. Manchmal reicht die Gewissheit „Das Gefühl wie es jetzt ist, das bleibt nicht so. Es geht vorbei.“

Für den älteren Mann vor meiner Tür geht es nicht vorbei. Mit dem Handfeger Spinnennetze entfernend, die meine Post verhindern wollen, höre eine Stimme hinter mir: „Was ist das hier?“ Viele aus der Nachbarschaft bleiben stehen und fragen. „Ah, eine psychologische Praxis. Der, der meiner Frau die Tabletten verschrieben hat, hat aufgehört – und der andere ist auf was ganz anderes spezialisiert…“ Sechs Jahre leben sie damit, drei Jahre Klinik. 
Wir schauen uns an, ich warte, zuhören bedeutet auch, Stille zuzulassen. Seine Augen schimmern, „Die ganzen Jahre schon, das ist wirklich …“, er dreht abrupt ab und geht mit gesenktem Kopf weiter. Aushalten. Auch darum geht es manchmal. Ein Teil in die falsche Richtung und die innere und äußere Struktur fliegen auseinander.

Die Sonne scheint, Hummeln und Bienen haben in unserem Garten einen HotSpot ausgerufen – der „Place to be“ in Rahlstedt für alles, was summt. Wie die Atmosphäre im Schanzenviertel – Gläserklirren, Lachen, Stimmen – hundert Gespräche in drei Sekunden, meine Augen fliegen, scannen, meine Ohren fühlen sich an wie ein altes Radio, welches nach einem Sender sucht. Wie im Film jetzt einmal auf Stopp drücken können – Freeze. Innehalten, Stille, einmal Überblick verschaffen. Doch keiner macht mit. Sie fügen sich in eine Melodie aus Worten, Tönen und Geräuschen, die leise beginnt, im Vorüberigehen der Stunden anschwillt, über den Rand läuft, bis sie verebbt. Nichts bleibt, wie es ist. Wie beängstigend. Wie gut.

Stärkende Zitate

Als Kind wollte ich hören, dass alles gut wird, dass nichts Böses hinterm Schrank sitzt und es nicht schlimm ist, wenn ich eine Fünf in Sachkunde bekomme.
Und es ist gut, Kindern diese Sicherheit zu vermitteln. Ich persönlich habe es nie so gehalten, kleinen Kindern schon brutale Wahrheiten zu erzählen, ohne sie dabei „dumm“ zu halten.

Als meine Tochter mich mit 5 mal fragte, wann ich sterben werde, erzählte ich ihr, dass ich 100 werde. Sie lachte und schlief beruhigt ein – 100… das ist ja noch soo lange hin!

Auf Linkedin las ich neulich von einem Vater, dass er seinem Achtjährigen erklärt hatte, dass er nicht wisse, wann er (der Vater) stirbt. Dass er alt werden aber auch morgen tot sein könne. Das ist wohl die Realität, aber Worte haben Macht – und wir sollten sie mit Bedacht wählen. In meinen Augen muss ein Achtjähriger sich nicht mit der Wahrscheinlichkeit von herunterfallenden Dachziegeln oder plötzlichen Herzinfarkten beschäftigen.

Die Frage ist ja auch: Was für ein Bedürfnis steckt hinter der Frage – wirklich Aufklärung? Oder ein Wunsch nach Sicherheit bei ersten Gedanken an die großen Fragen des Lebens?

Als Erwachsene wissen wir, dass es diese Sicherheit nicht gibt und so manchen quält die Ungewissheit, dass Dinge schlecht ausgehen könnten – viele Menschen bleiben ihr Leben lang in Deckung aus Angst, es könnte sie treffen – und verpassen ihr halbes Leben. Könnte ich eine Versicherung gegen Schmerz anbieten, wäre ich wohl über Nacht Milliardärin, doch die gibt es leider nicht.
Also bleibt uns als einzige Sicherheit nur das Vertrauen in uns selbst, dass wir in der Lage sind, mit dem Leben umzugehen, dass wir uns aus allem herausmanövrieren und wieder aufstehen.

Und vielleicht brauchst Du genau diese Worte heute – oder verwahrst sie für später:

„Hier ist die Welt. Schöne und schreckliche Dinge werden passieren. Fürchte Dich nicht.“ ❤️ 
(Frederick Buechner)

Schreib Dich stark! Aus dem Angstfokus in die Zuversicht

Es gibt keine Versicherung gegen Schmerz. Kein Vertrag der Welt wird uns einen Schadensersatz für verletzte Gefühle garantieren, wenn wir jährlich etwas einzahlen, niemand kann uns garantieren, dass es weniger weh tun wird, weil wir genug Vorsorge betrieben haben. 

Und doch verhalten sich viele Menschen so, als wäre das das Wichtigste: Schmerz zu vermeiden. Sich vor Enttäuschungen zu schützen. Und doch geht es ihnen auch damit nicht gut. 

Denn wenn Du wie auf rohen Eiern läufst und Dich nicht traust, mal richtig aufzutreten, wenn Du Dich nur auf das konzentrierst, was kaputt gehen könnte, nicht auf Deine Bewegung, Dein Ziel, nicht auf das Gefühl beim Gehen, dann ist das übertragen für Dein Leben: Du gehst keine innigen Verbindungen ein, wechselst nicht den Job, ziehst nicht um, Du machst keine Mutsprünge, denn: es könnte schief gehen – und es könnte weh tun. Die häufigste Antwort in meiner Praxis, wenn ich frage, warum jemand etwas nicht tut, obwohl er/sie sich diese Veränderung so sehr wünscht, ist: 

„Ich habe Angst, dass es nicht klappt, dass ich wieder enttäuscht werde“ 

„Und was wäre, wenn das eintreten würde?“ 

 „Dann tut es weh“

 „Und dann?“

.

.

Es ist wie bei vielen Themen eine Frage der Perspektive. Konzentriere ich mich auf meine Angst, die Vermeidung von Schmerz und überrede mich, trotzdem etwas zu tun, wovor ich Angst habe – und es geht dann schief, dann verfestige ich meine Angst. 

Mein Unterbewusstsein mit dem Fokus „Schmerzvermeidung/Schmerzerwartung“ sagt mir womöglich: „Siehst Du, wusste ich es doch. Es tut nur weh. Das hast Du jetzt davon! Immer wenn Du mal nicht aufpasst, nicht verletzt zu werden, passiert es!“ 

Was kann ich also tun, um nicht im Vermeidungsverhalten zu bleiben? 

Gib dem Schmerz seinen Platz. Er ist eh irgendwie im Raum, dann kannst Du ihm auch einen Stuhl anbieten, anstatt ständig angsterfüllt nach ihm Ausschau zu halten und Dich möglichst immer dort zu bewegen, wo Du ihn nicht vermutest. 
Und das Allerwichtigste: Mach Dir bewusst, dass Du mit ihm umgehen kannst, wenn er da ist. Schau auf durchschrittene Täler in Deinem Leben zurück. Wie bist Du da durchgekommen?

Schreibe auf:
Was bringt Dich durch die Nacht? Wo liegt Deine Stärke? Was in Dir trägt Dich? 

Mach Dir bewusst, dass Du es schaffen wirst, auch wenn Du enttäuscht werden solltest. Du wirst es nicht vermeiden können, in Deinem Leben schmerzhafte Erfahrungen zu machen. Nur eins ist sicher: Gefühle bleiben nicht. Sie verändern sich und verschwinden auch wieder, auch der Schmerz. Ja, er kann Spuren hinterlassen, aber das ist das Leben, es hinterlässt Spuren in jeglicher Tiefe und in jeglicher Schattierung. 

Du wirst viel Gutes verpassen, wenn Du aus Angst vor Schmerz nicht springst, wenn Du nicht hüpfst und wenn Du nicht rennst. Also – nimm alle Gefühle in Kauf, hab Vertrauen in Dich – und lauf los!

Foto: https://www.handcraftedfotos.de

#soulwritersclub #soulwriters_club #persönlichkeitsentwicklung #schmerz #resilienz #selbstliebe #achtsamkeit #selbstvertrauen #psychologischescoaching #schreibtherapie #schreibenstärkt #schreibenklärt # poesietherapie #biografischesschreiben #kreativität #hamburg #kreativesschreiben #stärkenstärken

Zurück zu DIR!

Erst vor ein paar Wochen hörte ich seit Langem mal wieder eine Bemerkung zu meiner Art, meinem Charakter. Sie lautete in etwa so: „Ja, Du warst schon als Kind sehr begeisterungsfähig. Vielleicht manchmal etwas ZU begeistert.“
Vor 10 Jahren hätte meine innere Kritikerin – sie heißt übrigens „Frau Mieselpriem“ und ist eine hagere, ältere Dame mit einem sehr faltigen, langen Hals, einer runden Brille und streng zurückgebunden, gräulichen Haaren, sie ist immer in Dunkelblau gekleidet, meistens trägt sie Rock und Blazer und halbhohe Schuhe. Sie steht sehr aufrecht mit leicht erhobenem Kinn und kann eine Augenbraue so hochziehen, dass man meinen könne, sie rutsche gleich nach oben weg. Also, Frau Mieselpriem hätte vor einigen Jahren eifrig genickt, beipflichtendes Zeug gemurmelt und gleich mal gescannt, in welchem Bereich ich denn jetzt und hier mal wieder zu begeistert sein könnte und wo ich mich etwas dämpfen sollte.
Heute klappt ihr Mund auf – und stumm wieder zu.
Wie ich sie zum Schweigen gebracht habe? Kurz gesagt: durch jahrelange Persönlichkeitsentwicklung. Durch die Reflektion der Vergangenheit – ich habe hässliche Glaubenssätze hochgenommen und ans Licht gehalten, sie betrachtet, habe sie auseinander genommen und schließlich neue geschrieben.
Und durch das Aufschreiben meiner Begeisterung und meiner Gefühle und der Energie, die es mir gibt, wenn ich Feuer und Flamme für etwas oder jemanden bin. Ich schrieb Erlebnisse mit allen Sinnen auf – aus Erinnerungen heraus, die sich ihren Weg aus meinem Unterbewusstsein nach oben bahnten. Ich bin meinem inneren Kind begegnet, der 20jährigen, der 35jährigen – und habe sie aus neuen Perspektiven wahrgenommen.
Wie ich das gemacht habe? Unter anderem mit Methoden aus der Schreib- und Poesietherapie.

In meiner Fortbildung zur Seminarleiterin für Poesietherapie und kreatives Schreiben schrieb ich aus solch einer Übung heraus ein Pantun (eine malaysische Gedichtform) – unter anderem mit den Worten „Diese Kompromisse – ich probiere sie kurz an (…) dieses Dazwischen – es passt mir nicht.“ Ich habe mir den Text und das Pantun dazu immer und immer wieder durchgelesen – DAS bin ich. Und es unterstützt das Selbstwertgefühl, das immer wieder zu lesen, meinem Unterbewusstsein damit zu sagen „SO bist Du – und das ist gut so!“, denn ja, die „Programmierung“ funktioniert auch im Positiven, und durch das Aufschreiben festigen sich Glaubenssätze umso mehr.

„Wer bist Du ohne Deine Prägung“ – ist eine wichtige Frage, die sich Viele von uns irgendwann im Leben stellen, wenn wir spüren, dass wir nicht am richtigen Ort oder mit den richtigen Menschen leben, wenn irgendetwas fehlt oder zuviel ist.
Uns bewusst zu machen, wie oft wir uns limitieren, kritisieren, maßregeln oder in Frage stellen, wie häufig wir Dinge tun, weil „man das so macht“ oder etwas lassen, weil wir nun einmal „nicht alles haben können“ und „nicht so XYZ“ sein sollten, ist Teil des Prozesses.

Und wenn wir dann weiterdenken und -fühlen, kommen wir vielleicht zu dem Schluss, dass wir doch und verdammt noch einmal gerade SO sein sollten, weil wir im innersten Kern genau SO sind und genau DAS nun einmal tun wollen? Und dass das Limitierende, das Kritisierende gar nicht zu uns gehört, nicht Teil unserer Persönlichkeit ist, sondern von außen auf uns draufgedrückt wurde …?

Mit 47 Jahren kann ich sagen, dass ich ohne meine ungezähmte Begeisterung nicht ich selbst bin. Dass ich einige Dinge in meinem Leben, die mich glücklich machen, gar nicht tun würde ohne diese wunderbare Leidenschaft.
Dass ich es liebe, die Momente immer noch und immer wieder erleben zu dürfen, in denen mir kurz die Luft wegbleibt, weil die Welle mir im Inneren vom Bauch hoch in den Hals, über mein Gesicht bis in die Augen flutet – mein Herz dann doppelt schlägt, ich nicht stillstehen kann und mir vor Glück und Begeisterung auch mal die Tränen kommen.
Ich möchte das nicht dämpfen, ich möchte jubeln! Denn so bin ICH.

Wie bist DU?

Wenn Du das in einer kleinen Gruppe mit anderen schreibend herausfinden möchtest, dann melde Dich gern an zum Intensiv-Seminar „SO bin ich“ – am 19. Und 20. November 2022. Drei von sechs Plätzen sind noch frei. Infos und Anmeldemöglichkeit findest Du hier!

#soulwriters_club #soulwritersclub #schreibtherapie #authentizität #schreibworkshop #kreativesschreiben #schreibseminar #hamburg #kreativität #persönlichkeitsentwicklung #prägung #glaubenssätze #werbinich #selbstliebe #achtsamkeit #selbstwahrnehmung #selbstwertgefühl #biografie #biografischesschreiben #zitate #ryanadams

Zum ersten Mal das letzte Mal

Soulwriters-Club

Heute war ich zum ersten Mal das letzte Mal für jemanden. Der letzte Mensch, für den er eine Sicherung rausgeschraubt oder eine Leitung überprüft hat. „So, fertig. Für heute war’s das, nächstes Mal komme ich nicht mehr, das macht dann ein Kollege…“ 
Wortkarg ist er die Stunde über gewesen, freundlich aber nicht sehr redselig. Ein ruhiger Mann, den Blick öfter in die Ferne als in meine Augen gerichtet, rötliche Gesichtsfarbe, die nach erhöhtem Blutdruck aussieht, graue, etwas dünne, zerstrubbelte Haare.

Und dann steht er vor mir und spricht diese Sätze mit soviel Gewicht, dass ich nach Worten suchend zunächst nur „Oh!“ hervorbringe. Fragend schaue ich ihn an, er spricht weiter: „Ja, es geht in Rente …“ Ob er froh darüber ist oder auch bedauert, ich bin mir nicht sicher, ich versuche immer noch, diese plötzliche Nähe einzusortieren.

Länger werden die Minuten, ich habe den Eindruck, er möchte nicht gehen – und auf einmal den Gedanken: „Ich habe ja gar nichts für ihn – das ist so wenig feierlich jetzt!“ Natürlich habe ich nichts für ihn, wie sollte ich? Warum hat mir denn niemand Bescheid gesagt? Der letzte Kunde, der letzte Termin, da sollte etwas Schönes auf jemanden warten.
Ich versuche es mit einem Lächeln und Worten, wünsche ihm alles Gute für den Ruhestand, er nickt dankend: „47 Jahre, ja, das reicht dann auch“, sagt er noch, während er den silbernen Türgriff herunterdrückt, die Tür aufzieht und einen Schritt nach draußen macht. Zum ersten Mal das letzte Mal.

✒️ Erinnerst Du Dich an ein „Zum ersten Mal das letzte Mal?“